Stress – paläogenetisches Verhaltensmuster oder kognitive Situationsbewertung?
Ich habe das bewusst so provokativ formuliert, weil Stress sehr oft wie folgt beschrieben wird …
Vor ca. 40.000 Jahren erblickt ein Neandertaler bei der Rückkehr von der Jagd einen hungrigen Höhlenbären. Innerhalb von Sekunden läuft in seinem Körper eine heftige physiologische Reaktion ab. Ein Cocktail aus verschiedenen Hormonen und körpereigenen Botenstoffen wird in die Blutbahn freigesetzt (Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol usw.). Sie rufen in dieser lebensbedrohlichen Situation blitzschnell eine massive Alarmreaktion (Fluch oder Verteidigung) hervor, fahren zusätzlich die körpereigene Immunabwehr hoch und machen die gesamte Muskulatur ‚startklar‘.
In vielen Seminaren und Workshops wird dieses – schon beinahe klassische – ‚Neandertaler‘ Szenario beispielhaft angeführt.
Das lässt vermuten, dass Stress offenbar durch einen bestimmten äußeren Reiz ausgelöst wird. Die darauf folgende Stressreaktion ist in unserer Art quasi fest ‚verdrahtet‘.
Dieser Erklärungsansatz ist aber nicht so alternativlos wie er dargestellt wird. Denn das Phänomen Stress ist komplexer und vielseitiger.
Das Erklärungsmodell der kognitiven Psychologie sieht Stress als einen Prozess der auf der individuell subjektiven Wahrnehmung der Situation und deren Bewertung beruht. Anders könnte auch niemand nachvollziehen warum sich manche Menschen mit scheinbarem Vergnügen in lebensbedrohliche Situationen begeben.
Heute hätte der Höhlenbär mit dem wagemutigen Abenteurer vielleicht einen ‚Spielpartner‘ gefunden. Und zwar dann, wenn der die Begegnung mit einem Bären als Herausforderung sehen würde …
Deshalb gilt das ‚Neandertaler-Modell‘ in der Psychologie nicht (mehr) als alleiniger Erklärungsansatz für Stress.
Stress ist eben nicht gleichbedeutend mit einer situativen Konstellation ist, sondern beruht auf der subjektiven Wahrnehmung und Interpretation der Situation. Es hängt von der individuellen Bewertung ab, wie ich etwas empfinde. Weitere, sehr wichtige Aspekte sind dabei die wahrgenommene Kontrolle der Situation und die Einschätzung ihrer möglichen Bewältigung. Das kann bedeuten, dass eine belastende Situation in der Bilanz nicht negativ, sondern auch positiv z.B. als erwünschte Aktivierung oder Anregung wahrgenommen werden kann (wie beim Abenteurer).
Wenn Sie einen online-Test machen möchten, mit dem neben Stress auch die Bewältigungsmöglichkeiten gemessen werden kann, dann schauen Sie doch mal bei Stress- und Coping-Inventar (SCI).